Texte: KONSTRUKTIONEN DER LEICHTIGKEIT

KONSTRUKTIONEN DER LEICHTIGKEIT

von Christine Schön M.A.

Es braucht Kraft, um sich aus der Schwere zu erheben und Leichtigkeit zu erlangen. Denn Leichtigkeit heißt eben nicht Sich-treiben lassen.

Würde ein Vogel nicht kunstfertig mit den Flügeln schlagen, würde ihn die Schwerkraft nicht fliegen lassen.

Und gäbe es nicht eine konstruktive Kraft, die dem Vergehen in der Natur erneuernd entgegenwirkt, dann gäbe es kein Leben.

Die Schwere und das Vergehen gehören als Grundbedingungen zu allen Formen und Erscheinungen des Lebendigen. Erst in der Begegnung mit der Schwerkraft sind diese Formen entstanden.

Die Raumobjekte und Fotografien, die wir hier sehen, wollen – wenn man den Titel der Ausstellung bedenkt – als Konstruktionen, also als Gefüge aus Bauteilen verstanden werden. Und zwar als solche Konstruktionen, die errichtet sind, um gegen die Schwere in eine Form der Leichtigkeit zu gelangen. So jedenfalls ist es gemeint, wenn die beiden Künstler Petra Jung und Daniel Schieben ihre Präsentation mit „Konstruktionen der Leichtigkeit“ überschreiben.

Es geht also nicht um die materiale Leichtigkeit einer Konstruktion, wie das auf den ersten Blick der Wandbehang aus Federn unten im Eingangsbereich vermuten ließe.

Es geht auch nicht um grazil geschwungene Formen von Bauwerken, wie man das vielleicht erwartet, wenn man von Daniel Schiebens Arbeiten erfährt, dass es sich um Architekturfotografie handelt.

Sondern Leichtigkeit meint hier etwas Grundsätzlicheres.

Petra Jung

Die Objekte von Petra Jung sind Gefüge aus zum einen natürlichen, tatsächlich meist leichtgewichtigen Materialien wie Federn, Samen oder Haaren. Zum anderen nutzt sie aber auch künstlich hergestellte Dinge wie Teebeutelpapier, Silikon, Wattestäbchen, dünne Folie oder kleine Nägel.

Die Gemeinsamkeit der Materialien besteht darin, dass sie in großer Zahl vorkommen, recht unkompliziert zu beschaffen sind, klein und meist leicht und zerbrechlich sind.

Sie haben eine gewisse Banalität wegen ihrer leichten Verfügbarkeit, erfahren aber durch ihre minutiöse Verarbeitung eine Veredelung. Denn präzise fügt Petra Jung Bauteilchen an Bauteilchen, bis die sich wiederholenden Elemente sich zu einheitlichen, filigranen Gebilden fügen, zu kokonähnlichen Gespinsten, zu bergenden Booten oder Gehäusen. Organisch anmutend und immer wieder die Einfachheit in der Form suchend.

Und so scheinen sie zuweilen, als seien sie wie von selbst gewachsen.

Doch will die Künstlerin die Natur nicht nachbilden, sondern sie begibt sich im Prozess des Herstellens in einen Zustand des Schaffens, der dem Wachsen in der Natur ähnlich ist.

Das ist eine Kunst, die große Hingabe verlangt und die erstaunt durch ihre minutiöse Kleinteiligkeit und Regelmäßigkeit.

Betrachtet man zum Beispiel die halbkugelförmigen Gebilde aus Wattestäbchen und Grassamen, die mit geradezu akribischer Genauigkeit auf eine Kokosnussschale gespickt sind: es scheint, als handele es sich um eine bestimmte Kaktusart und doch sind sie der floralen Formenwelt nur nachempfunden.

Verletzlich wirken sie in ihrer Fragilität. Man hat den Eindruck, als würden sie zurückzucken, wenn man ihre Stacheln berührte.

Die aus Teebeutelpapier gefertigten kapselartigen Formen sind meist leicht aufgebrochen und lassen in das mit Haaren ausstaffierte Innere blicken. Wie soeben verlassene Kokons wirken sie.

So naturähnlich sie in ihrer Erscheinungsweise auch sein mögen und sicherlich auch mit einem gewissen Täuschungseffekt kokettieren, und auch wenn sie die Künstlerin präsentiert ähnlich wie in einer Wunderkammer oder ähnlich wie in Schaukästen dem Betrachter zum naturkundlichen Studium vorlegt, es sind doch in erster Linie eigenständige Artefakte der Abstraktion, die auf etwas Allgemeines weisen.

So sind auch die allen Formen und Objekten aufgesetzten Abwehrelemente, wie Stacheln, die Kiele von Federn oder Nägel in ihrem Symbolgehalt zu verstehen.

Schutz vor äußerer Gewalt wollen sie sein. Trotzig wenden sie sich ins Außen und behüten den Raum im Innern.

Wehrhaft nach außen und nach innen geschützt, sind die Innenräume der Objekte wie Refugien für das Zarte.

Auch in den Zeichnungen wiederholt sich diese Dichotomie von Bergen und Abwehr.

Ob angebrochene Schneckenhäuser durch Nägel geschützt, das offen liegende Innere der Boote mit Spitzen auf der Außenseite oder all die Hülsen, immer sind diese Räume leer. Wie verlassene Nester liegen sie da, leise umweht von einer schwer greifbaren Melancholie.

Diesem Eindruck entspricht auch das immer wieder auftretende lichte Braun, das an vergilbtes Papier erinnert – unweigerlich eine Assoziation der Vergänglichkeit.

Doch: es ist in diese Arbeiten auf geheimnisvolle Weise immer auch ein Verweis auf den Neubeginn eingeschrieben, der in der Art und Weise der Gestaltung begründet liegt.

Petra Jungs Arbeiten sind bildhafte Poesie und von großer Schönheit.

Als Sinnbilder der Vergänglichkeit weisen sie auf die großen Zusammenhänge der Verwandlung in der Natur, dem Werden und Vergehen. Alles Leben vergeht und aus dem Vergehen entsteht neues Leben.

Mit dem ästhetischen Mittel der Schönheit erinnert Petra Jung an dieses Wissen. Gerade in ihrer Zartheit und Verletzlichkeit zeugen diese Objekte von großer Kraft, einer Kraft, die aus der Hingabe entsteht.

Und im Vertrauen auf die großen Wandlungen in der Natur schwingt sich das Gemüt tatsächlich in eine Leichtigkeit.

Daniel Schieben

Wenn Daniel Schieben Architekturaufnahmen macht und sie in komplexen fotografischen Arbeitsschritten aus Mehrfachbelichtung mit und ohne Gegenlicht, Langzeitbelichtung und Fotografie von Prints zu einem neuen Bild fügt, geht es ihm nicht darum, Form von Architektur in Szene zu setzen. Das Abbilden an sich ist ohnehin nicht seine Sache, obgleich es sich hier ausschließlich um Fotografie handelt und kein computerbasiertes Konstrukt.

Die Abbildungen durcharbeitet Schieben in vielen, manchmal nur 3 teils aber auch bis zu 100 Schritten. Jeder Schritt ergibt sich aus dem vorangegangenen, wobei das untenliegende Bild im darüber liegenden als Spur erhalten bleibt. Das darunter liegende bildet quasi den Humus für das neue, bedingt es und sinkt dabei in die Tiefe ab.

Bei diesen Arbeiten im Zentrum des Raumes hinter mir handelt es sich ursprünglich um die Sicht aus dem Erdgeschossfenster des Weissenhofmuseums Le Corbusier. Eingearbeitet ist die Silhouette von Stuttgart, die sich als Horizontlinie abbildet. Die weißen Punkte, die das Bild übersät, haben ihren Ursprung in Blumen.

Konstruktion ist bei Schieben ein Prozess der Reduktion und Anreicherung zugleich. Sie ist das jeweilige Endergebnis der Kette von Fotografien.

Es gibt nichts Konkretes mehr zu erkennen, nur Lichtreflexionen lassen Materialien erahnen, Schatten lassen auf Anordnungen schließen und Linienverläufe auf Formen. 

Die Farbaufnahmen sind bis in ein farbig schimmerndes Hell- Dunkel gesteigert. Nur auf den ersten Blick scheinen sie schwarz-weiß zu sein.

Leichtigkeit bedeutet bei Schieben also nicht die rein vordergründige Wiedergabe zum Beispiel einer Glasfront, die das Innen mit dem Außen verbindet.

Vielmehr löst er auf eine wesentliche Art das Versprechen von Transparenz ein, wenn er zum Beispiel den Bundeskanzlerbungalow in Bonn aus der Innensicht in eine dichte Bilderfahrung von Rhythmus von vertikalen Streifen und in sie eingefügten grellen Lichtpunkten als Reflexionen der von Helmut Kohl angebrachten Lichterkette überführt.

Ein in der Tiefe liegender dunkler horizontaler Balken umfasst dieses verspielt anmutende Schweben der Lichter.

Umso intensiver ist das Bilderleben, wenn im Bewusstsein die Ausgangssituation der Fotografie und die Funktion des Baus mit schwingt.

Der Titel der Arbeiten ist deshalb ein Bestandteil des Bedeutungsraumes, der das Bestimmte behauptet, obgleich dessen Wiedererkennen nicht möglich ist. Je genauer man hinsieht, desto mehr entzieht es sich und löst sich schließlich in einem abstrakten oder atmosphärischen Eindruck auf.

Das heißt, auch wenn Daniel Schiebens Arbeiten für sich gesehen schon eine enorme ästhetische Kraft entfalten, eröffnet das Wissen darum, dass ihnen die Abbildung eines bestimmten aus Stahl, Beton, Stein oder Glas errichteten Bauwerkes zugrunde liegt, eine entscheidende Bedeutungsebene. Aus diesem Grund ließe sich diese Bildwirkung auch nicht durch eine andere Technik wie beispielsweise die Malerei erzielen.

Für das Bild rechts von mir steht am Beginn der komplexen fotografischen Arbeit eine Innenraumaufnahme der von Peter Zumthor erbauten Bruder Klaus Kapelle in der Eifel. Der höhlenartige Raum der Kapelle empfängt Tageslicht durch über 300 Edelstahlröhren, die die Außenwände durchziehen. In nahezu 100 Schritten, bei denen durch Wiederholung und Überlagerung das einmal sparsame punktförmige Licht zu einer Dringlichkeit gesteigert ist,

verfremdet Schieben die Atmosphäre desSakralraumes zu einem schwebenden und zugleich streng geordneten Lichterspiel.

Intensiv erlebbar ist die Unschärfe als Gestaltungsmittel bei der Serie der Arbeiten mit dem Titel Haus im Meer. Unspezifische Architektur geht hier eine ununterscheidbare Verbindung ein mit der Weite des Meeres.

Versenkt man den Blick in die landschaftlich anmutende Bilder, so zieht es einen unweigerlich immer weiter in die Tiefe und beginnt zugleich ähnlich wie im Traum etwas Unbestimmtem nachzuspüren, von dem man weiß, dass es da ist.

Schiebens Bilder befragen oder untersuchen nicht den vielbesprochenen Wahrheitsgehalt der Fotografie, sondern sie ermöglichen den Blick in Räume, den wir mit bloßem Auge nicht haben könnten, der dadurch aber umso wirklicher ist.

Denn da, wo alles grell zu sehen ist, da gibt es nichts mehr zu erkennen.

Indem Schieben den fotografierten Gegenstand von seiner Existenz in Raum und Zeit löst, bringt er Architektur tatsächlich zum Schweben, aber ohne sie zu verleugnen.

Raumerfahrung wird zu einer atmosphärischen oder ästhetischen Erfahrung, die das Oben und Unten, und Innen und Außen überwindet und dadurch umso wirklicher ist.

Die Bilder dieser Ausstellung suchen die Leichtigkeit in der Schwere.

Und sie erwächst ihnen aus der Erfahrung und in der kraftvollen Begegnung mit ihr.

Daniel Schieben arbeitet sich durch das Gewicht und die materiale Präsenz eines aus Stein, Beton und Glas errichteten Gebäudes, dringt immer weiter in die Tiefe, solange bis sich das Gebäude vom Boden löst und sich in lichter Transparenz und Leichtigkeit mit dem umgebenden Raum zu einer raumtranszendierenden Wirklichkeit verwebt.

Und Petra Jungs Arbeiten kreisen um die Endlichkeit, weisen auf die Schönheit im Vergehen und in der Verletzlichkeit des Lebens und erinnern daran, der steten Erneuerung in den Naturprozessen in Leichtigkeit zu vertrauen.

So gesehen sind die Arbeiten dieser Ausstellung wie Bild gewordene Weisheit.

Ob die Fotografien oder die Objekte und Zeichnungen, beide Formen suchen auf ihre Weise auf und aus dem Gewicht der Dinge und aus der Tatsache des Vergehens allen Daseins eine Sichtbarkeit von Leichtigkeit zu errichten, die bildhafter Ausdruck einer tiefen Erfahrung der Wirklichkeit sind.